"Könnte sofort hundert Arbeitsplätze besetzen" Heils Job-Turbo im Realitätscheck: Lieber Bürgergeld als 3500 netto durch eigene Arbeit

"Mit Bürgergeld muss man nicht mehr um sechs Uhr in der Früh aus dem Haus"

Von Karin Christmann

Dienstag, 21.11.2023, 08:10

Arbeitsminister Hubertus Heil will mehr Geflüchtete Arbeit bringen und ruft dafür den Job-Turbo aus. Stimmen aus Unternehmen zeigen, wie gewaltig in manchen Fällen die Probleme sind.

"Ich könnte bundesweit sofort hundert Arbeitsplätze besetzen, finde aber niemanden"

"Wir haben einem Ehepaar, das aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist, Arbeit angeboten. Eine Vollzeitstelle für den Mann, eine Teilzeitstelle für die Frau, so wie von den beiden gewünscht", berichtet Tanja Gebhard, kaufmännische Leitung des Gebäudereinigungsunternehmens Günter Ott aus Baden-Württemberg.

"Die beiden wären mit knapp 3500 Euro netto rausgegangen. Sie haben mir per WhatsApp abgesagt. Die Begründung: Die Arbeit würde sich für sie nicht lohnen, sie würden lieber weiter Sozialleistungen beziehen. Die beiden haben zwei Kinder, entsprechend kommt beim Bürgergeld einiges zusammen. Da war unser Angebot nicht konkurrenzfähig."

Krasser Einzelfall oder Beispiel für ein größeres Problem? Gebhards Schilderung wirft ein Schlaglicht auf eine der großen Fragen, vor denen die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik knapp ein Jahr nach dem großen Streit um die Bürgergeld-Reform steht: Wird im neuen System genug gefordert oder zu viel gefördert?

Heil hat gerade erst einen Job-Turbo ausgerufen

Für Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird die Debattenlage langsam ungemütlich. Vor kurzem wurde bekannt, dass er für das kommende Haushaltsjahr fast 5 Milliarden Euro mehr als gedacht für das Bürgergeld einplanen muss .

Gut für Heil, dass er gerade erst einen Job-Turbo ausgerufen hat , um Geflüchtete schneller in Arbeit zu bringen. Am Montag stellt er die Pläne noch einmal vor. Schließlich will er lieber mit Lösungen als mit Problemen von sich reden machen.

Rund 200.000 Menschen aus der Ukraine hätten gerade ihre Integrationskurse beendet oder seien kurz davor, sagt Heil. Für rund 200.000 Menschen aus anderen Ländern gelte dasselbe. So ergebe sich ein Potenzial von rund 400.000 dringend benötigten Arbeitskräften.

Arbeit ist die beste Integration.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD)

Die Jobcenter würden die Menschen nun engmaschiger einladen und deutlich machen, dass es an der Zeit sei, Arbeit aufzunehmen, kündigt Heil an. Am Ende könne man so Kosten dämpfen.

"Arbeit ist die beste Integration", sagt der Minister. Im Schulterschluss von Politik, Wirtschaft, Kommunen, Gewerkschaften und Arbeitgebern sei jeder bereit, seinen Beitrag zu leisten.

Fünf Unterstützerinnen und Unterstützer hat Heil sich mit aufs Podium geholt. Darunter DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel, Steffen Kampeter als Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit und seit neuestem Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.

In Bewerbungsverfahren passiert es uns häufig, dass sich potenzielle Mitarbeiter die Sache durchrechnen lassen und dann dankend abwinken.

Tanja Gebhard, kaufmännische Leitung einer Gebäudereinigungsfirma

Es ist Kampeter, der sich auch auf dem Podium nicht scheut, dem Minister zu widersprechen und die Themen anzusprechen, die die Unternehmerinnen und Unternehmer umtreiben. Es brauche mehr Klarheit in Sachen Mitwirkungspflicht, beim Fördern und Fordern, sagt Kampeter. Gelegentlich gebe es da Missverständnisse. Es fehle an Klarheit in der Analyse der Defizite.

Die Stimmen aus der Praxis klingen ähnlich. "In Bewerbungsverfahren passiert es uns häufig, dass sich potenzielle Mitarbeiter die Sache durchrechnen lassen und dann dankend abwinken. Wir haben permanent zu wenig Leute und könnten jederzeit Arbeitsplätze anbieten, wenn es nur jemanden gäbe, der sie haben möchte", sagt Tanja Gebhard.

Schwarzarbeit ist durchaus gewünscht

Hart verdientes Geld: Eine Reinigungskraft bei der Arbeit.
© Imago/Photothek/Thomas Imo

Und sie ist nicht die einzige. "Von meinem Führungspersonal wird mir immer wieder zugetragen, dass Mitarbeiter mit Verweis auf Sozialleistungen kündigen", berichtet Holger Eickholz, Geschäftsführender Gesellschafter der Niederberger Gruppe.

Wie Gebhard kommt auch er aus der Reinigungsbranche. "Es scheint der Eindruck vorzuherrschen, dass das Bürgergeld kaum ein Verlust sei im Vergleich zum selbst verdienten Gehalt - und dafür muss man nicht mehr um sechs Uhr in der Früh aus dem Haus", sagt Eickholz.

Oft lassen die Leute sogar durchblicken, dass sie sich nebenbei und schwarz etwas dazuverdienen wollen.

Unternehmer Holger Eickholz

Da kann Minister Heil noch so oft vorrechnen, der Lohnabstand sei immer gewahrt. Und er kann noch so richtig liegen. Nach Eickholz' Erfahrung kommt bei den Menschen etwas anderes an. Zumal sich nicht alle an die Spielregeln halten.

"Oft lassen die Leute sogar durchblicken, dass sie sich nebenbei und schwarz etwas dazuverdienen wollen. Gerade in der Reinigungsbranche ist leider nicht von der Hand zu weisen, dass das eine sehr realistische Möglichkeit ist." Den Minister hält Eickholz für einen "Sozialromantiker".

Der Personalmangel sei für ihn ein riesiges Problem, berichtet Eickholz. "Von meinen bundesweit hundert Azubi-Stellen sind nur 40 besetzt." Dabei hält er die Höhe des Bürgergelds nicht für das Problem - sondern die Frage, wer es alles bekommt.

"Meiner Meinung nach müssten alle, die arbeiten können, verpflichtet werden, innerhalb einer bestimmten Frist Arbeit anzunehmen. Ich könnte bundesweit sofort hundert Arbeitsplätze besetzen, finde aber niemanden."

"Auch einzelne Fälle belasten das Betriebsklima"

Es ist der Branchenverband von Gebhard und Eickholz, der Bundesinnungsverband Gebäudedienstleister, der vor Kurzem mit einer Umfrage auf das Thema aufmerksam gemacht hat. Knapp 30 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass schon mehrere Beschäftigte mit konkretem Verweis auf das Bürgergeld gekündigt oder eine Kündigung in Aussicht gestellt hätten. Weitere 40 Prozent bestätigten das Phänomen, aber nur in Einzelfällen.

Zu ihnen gehört Thomas Conrady, Geschäftsführer der Conrady-Gruppe und Mitglied im Bundesvorstand des Verbands. "Es sind Einzelfälle, aber es gibt sie", sagt Conrady.

"Das Problem ist, dass auch einzelne Fälle das Betriebsklima belasten. Sie bringen andere Mitarbeiter zum Nachdenken, warum sie morgens früh aufstehen. Am Ende stimmen die Leute mit dem Wahlzettel ab und fallen auf Populisten und Radikale herein."

Wir haben sehr viele absolut treue und verlässliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Thomas Conrady, Unternehmer

Manche Mitarbeiter würden sogar in eine Verweigerungshaltung wechseln, um eine Kündigung zu provozieren und so eine Sperre beim Arbeitslosengeld I zu umgehen, berichtet Conrady - und verteidigt gleichzeitig die ganz große Mehrheit seiner Angestellten.

"Wir haben sehr viele absolut treue und verlässliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es geht in der Debatte um den Druck auf Arbeitsunwillige auch darum, dem Gerechtigkeitsgefühl von denen, die jeden Tag ihren Teil leisten, zu genügen."

Wer mehr zahlt als andere, ist nicht mehr konkurrenzfähig

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, bei der Pressekonferenz zum 3. Arbeitsmarktgipfel "Job-Turbo".
© picture alliance/dpa

Womöglich zeigt sich in der Reinigungsbranche besonders früh, was anderen noch bevorsteht: Hier sind die Löhne niedrig, und die Arbeit ist hart. Dazu kommt: Zum neuen Jahr steigen die Regelsätze im Bürgergeld um rund zwölf Prozent, was vor allem an der zuletzt sehr hohen Inflation liegt. "Wir blicken mit Sorge auf diese Erhöhung. Vermutlich wird sie unsere Personalnot noch einmal verschärfen", sagt Tanja Gebhard.

Warum nicht einfach höhere Löhne zahlen? In der Reinigungsbranche machen die Löhne den allergrößten Teil der Kosten aus. Wer seinen Angestellten mehr zahlen will, muss das an die Kunden weiterreichen. Und wer als einziger deutlich mehr zahlt als alle anderen, ist womöglich nicht mehr konkurrenzfähig. So zumindest die Sicht der Unternehmer.

Als Russland die Ukraine überfiel, wurde in Deutschland schnell die Entscheidung getroffenen, die Geflohenen direkt ins Bürgergeld-System zu holen. Minister Heil verteidigt das auch heute. Er weist darauf hin, nach so vielen Monaten wären jene, die am Anfang des Krieges kamen und bislang nicht arbeiten, ohnehin im Bürgergeld-Bezug angelangt.

Nicht die geflüchteten Menschen sind das Problem, sondern die Barrieren, die sie hindern, in Arbeit zu kommen.

DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel

Es gebe auch keine empirischen Belege für Massenkündigungen aufgrund des Bürgergelds, sagt Heil. "Es mag solche Fälle im Einzelnen geben, aber es wird auch sehr viel erzählt."

Man solle niemandem einreden, dass es eine gute Idee wäre, sich im Bürgergeld einzurichten. "Das ist kein bedingungsloses Grundeinkommen." Und der Minister warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. "Wir müssen aufpassen, dass solche Diskussionen die Solidarität nicht zerbrechen lassen."

Ähnlich sieht es Gewerkschafterin Piel. "Nicht die geflüchteten Menschen sind das Problem, sondern die Barrieren, die sie hindern, in Arbeit zu kommen", sagt sie. Die Beschäftigten in den Jobcentern seien nach Jahren der Krisen "wund gearbeitet".

Mit Hubertus Heils Job-Turbo kommen neue Aufgaben auf sie zu. Nun muss sich der Aufwand nur noch lohnen. Die Arbeitsmarktzahlen des Jahres 2024 werden zeigen, ob der Turbo zündet - oder auch nicht.

Das Original zu diesem Beitrag "Heils Job-Turbo im Realitätscheck: Lieber Bürgergeld als 3500 netto durch eigene Arbeit" stammt von Tagesspiegel.


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